Im Gespräch mit Hermann Schulze, dem Architekt der Waldorfschule Neumünster

über die Ideen, Hintergründe, und Perspektiven zu dem besonderen Architekturkonzept unserer Schule (2003)

Herr Schulze, wenn man über das weitläufige Grundstück der Neumünsteraner Schule geht, spürt man trotz der Vielgestaltigkeit der Gebäude, dass all dem eine gemeinsame Idee zugrunde liegt - was war oder ist für Sie das Wichtigste an diesem Neubau?

Schulze: Wenn man beginnt, über die Konzeption für den Neubau einer Schule nachzudenken, dann stellen sich zunächst Fragen an das Grundstück: Wie stellt es sich dar? Wie ist es begrenzt? Was ist das Spezifische dieses Ortes? Für mich war von Beginn an klar, dass die Flächigkeit, die Erdigkeit dieses Grundstücks am Roschdohler Weg in Spannung steht zu dem nur an diesem Ort so zu erlebenden Himmelsraum. Da kann ein Dialog entstehen von Erde und Himmel, von Schwere und Leichtigkeit, von Gebundenheit und Weite und auch von Ruhe und Dynamik. Und da findet sich auch ein wesentliches Motiv sowohl für die Form wie für die Farbgebung. So wie Finger, Auge oder Zahn spezifisch gebildet sind, aber doch der gleichen Gesamtidee unterliegen, erfüllt bei dieser Schule jeder Baukörper, jedes Haus seine eigene Aufgabe, hat seine eigene spezielle Erscheinung und ist doch erkennbarer Teil des Ganzen [Gesamtplan], der gemeinsamen Idee. Getragen vom Betonsockel, schwer und erhaben - in spielerischer Leichtigkeit dann die Häuser, in einer Ordnung, die gefunden werden will.

Die Neumünsteraner Schule ist ja in der Tat eine "Schule unter einem weiten Himmel"; sie ist aber auch eine Schule der weiten Wege...

Schulze: Ja - und das ist auch durchaus beabsichtigt. Ruhe und Dynamik, Einatmen und Ausatmen - dieses Motiv greift durch bis in die Funktion hinein. Darin steckt etwas vom japanischen Weg der Besinnung - sich Besinnen auf das, was einen erwartet, auch im Sinne von Hinwendung und Achtsamkeit. Das wirkt - selbst wenn es mitunter beschwerlich erscheint - dennoch befreiend, reinigend und damit auch kräftigend. Und es gibt Gelegenheit und Zeit, sich von dem Ort, woher man kommt, dem neuen Ort zuzuwenden, wirklich dort anzukommen. Deswegen sieht die langfristige Planung auch vor, die Wege so zu gestalten, dass durch sie ein möglichst breites Spektrum unserer zwölf Sinne angesprochen wird. So soll durch eine sehr spezifische, naturnahe Gestaltung und Bepflanzung, durch Licht-und-Schatten-Wirkungen, durch Höhlenartiges und sich plötzlich öffnende Ausblicke ein Erlebnisraum geschaffen werden, der in sehr vielfältiger Weise auf die Schüler (und die Erwachsenen) wirkt.

Nun konnte ja nicht alles gleich im ersten Anlauf verwirklicht werden. Es wird also noch etwas dauern, ehe auch das Drumherum der Gebäude so sein wird, wie Sie es sich vorstellen.

Schulze: So ist es sicherlich. Aber gerade deswegen muss allen Beteiligten klar sein, dass es sich dabei um sehr viel mehr als nur "schmückendes Beiwerk" handelt. Das Einbeziehen des Naturraums soll und kann dazu beitragen, die Motivation, die Konzentration und die Aufgeschlossenheit zu schaffen, die im Unterricht dann so dringend gebraucht wird. Der Naturraum wirkt hier gleichsam als "Akku" für die Seele. Den so oft verletzten Seelenraum unserer Kinder zu sehen und zu beachten, ist heute eine der Hauptanforderungen, wenn es darum geht, für Kinder zu gestalten.

Schauen wir uns einmal die einzelnen Gebäude genauer an. Da ist ja zunächst das Unterstufenhaus mit seiner besonders ins Auge fallenden Gestaltung...

Schulze: Das Unterstufengebäude bildet eine schützende Geste, bietet geborgenen Raum und ist in seiner noch geschlossenen, monolithischen Form dem Wesen und Seelenempfinden der Altersgruppe der Sechs- bis Zehnjährigen nachempfunden. Die Klassen- und Gruppenräume gruppieren sich dabei um den innen liegenden Saal, introvertiert, ruhig und von oben belichtet - oder besser vielleicht: mit einem Lichtraum bekrönt wie aus einem Märchenbild.

Die unterschiedlichen Formen der Klassenräume haben also einen besonderen, auch pädagogischen Grund. Wie entwickeln sich denn die Raumformen von der ersten bis hin zur achten Klasse?

Schulze: Die Entwicklung der Raumformen folgt der Entwicklung der Kinder. Das noch Knospenhafte, Geschlossene der gerade eingeschulten Kinder bricht in der weiteren Entwicklung - einer Pflanze vergleichbar - auf, öffnet sich in seinem ganzen Sein, im Geist und im Tun der Kinder. Diesen Prozess spiegeln auch die Klassenraumformen wider. Die Raumform ist in der ersten Klasse noch weich, im Fluss, sie streckt sich dann in der zweiten Klasse mit leichten Verfestigungen in der dritten und vierten Klasse. So wird aus dem absoluten Miteinander des Beginns ein allmählich bewusster werdendes Gegenüber von Kind und Lehrer - durchaus bis hin zur Konfrontation in der Mittelstufe - um sich dann zum Ende der Schulzeit im Wissen um die eigene Kraft dem jetzt demokratischen Gemeinsamen wieder einordnen zu können.

Die Formen der Gebäude und der Klassenräume, auch ihre Farben, sollen also die Entwicklung der Kinder und auch den pädagogischen Prozess unterstützen?

Schulze: Ja. Lauscht zum Beispiel ein Erstklässler einem Märchen, dann soll er nicht durch irgendwelche Unstimmigkeiten oder eine Unbedachtheit der Raumgestaltung abgelenkt werden, sondern er soll sich in einem warmen, in sich geschlossenen Gefühl hingeben, illuminieren können. Der Raum, seine Ästhetik, seine Form- und Farbqualität tragen dazu bei, indem sie helfen, das Kind bei sich zu halten. Kommt man dann in die zweite Klasse, so löst sich dieses Geschlossene bereits ein wenig auf. Die Rückseite des Raums wird schmaler, er wird gestreckter, richtet sich - und damit auch die Aufmerksamkeit der Kinder - mehr nach dorthin aus, wo der Lehrer gewöhnlich steht. Diese gewisse Abgrenzung zum Gegenüber des Lehrers hin, die klarer werdende Richtung - die sich zum Ende der Oberstufe dann ja wieder auflöst - zeigt sich in der dritten Klasse durch eine zusätzliche Einschnürung des Raums noch deutlicher und setzt sich in der vierten und den folgenden Klassen straffend fort. In der achten Klasse schließlich steht der Raum gleichsam für sich, bietet dem Achtklässler in seiner für dieses Lebensalter so typischen Erschlaffung nur noch Eckpfeiler, die ihn sozusagen aufrichten und tragen.

Den klaren Mittelpunkt der neuen Neumünsteraner Waldorfschule bildet aber das Eingangsgebäude, hoffentlich bald schon mit dem unbedingt nötigen Zugang über den kleinen See...

Schulze: Das ist die Mitte, das Zentralgebäude, der Treffpunkt, die Kommunikation mit Küche, Verwaltung, Heileurythmie, Bibliothek, Lehrerzimmer und vielen anderen Funktionsräumen. Und da ist das Foyer und der Saal mit der großen Bühne. Hier präsentieren sich die Schule und die Menschen, die sie tragen, hier ist die Basis für soziale Entfaltung. Das Zentralgebäude ist denn auch der größte Baukörper, die tragende Mitte in überragender Größe - hier wird Öffentlichkeit angesprochen!

Und es gibt dazu noch eine Reihe anderer, wichtiger Funktionsgebäude - zum Beispiel den künstlerisch-handwerklichen Bereich oder das Eurythmiehaus.

Schulze: Der künstlerisch-handwerkliche Bereich soll vor allem eines sein - großzügig und offen. Die dort entstandenen Gegenstände - ob plastiziert, geschnitzt oder getischlert - sollten also nicht nur in irgendwelchen Regalen lagern, sondern sie sollen für eine gewisse Zeit zugänglich, umgehbar sein. Die Werke dürfen nicht gleich wieder verschwinden müssen, ohne dass es die Möglichkeit gegeben hat, sie zu präsentieren und stolz darauf zu sein - es muss also Platz und Raum sein für Kommunikation. Auch wäre es gut, gerade hier dem Spielerischen, dem Experimentellen Raum zu geben. Da kann es auch gerne etwas archaisch zugehen. Beispielsweise ließen sich verrostete Eisenplatten verbauen - nicht alles muss neu und "fertig" sein. Ein kleiner Flaschenzug könnte vorhanden sein, eine Möglichkeit das Mofa zu reparieren, die Chance für einen Schweißerkurs - ganz dicht an dem Fühlen und Wollen der Kinder und Jugendlichen. Und wenn Sie sich das Eurythmiehaus anschauen: Es nimmt neben der geplanten Sternwarte und dem ebenfalls noch geplanten Musikhaus einen besonderen Platz ein - so wie auch die Kunst in der Gesellschaft eine besondere Stellung innehat. Sie ist die Mittlerin zwischen dem Göttlichen und dem Täglichen, sie eint das was war, mit dem was ist, zu dem was sein könnte!

Und das Naturwissenschafts- und Oberstufengebäude ...?

Schulze: Das naturwissenschaftliche Gebäude ist bewusst einfach und gradlinig gestaltet; sachlich, klar, fokussiert auf die Funktion wie die Wissenschaft selber. Deshalb könnte und sollte das Haus auch selbst zum Unterrichts- und Forschungsgegenstand werden. Es wird in diesem Haus von Messvorrichtungen geradezu wimmeln. Alles, was es zu gucken und erforschen gibt an einem solchen Haus, das sollte auch geguckt und erforscht werden - bis hin zur Messung des Bodenabriebs oder zur Feuchtigkeitsaufnahme und -abgabe der verschiedenfarbigen Wände, von der Fotovoltaik bis zu den Sonnenkollektoren. Neben Physik, Chemie und Biologie ist aber auch der Computerbereich unerlässlich. Gerade eine Waldorfschule darf und muss davor keine Angst haben, sondern soll diesen Bereich ergreifen und den Computer sehen als das, was er nun einmal ist: ein Handwerkszeug wie viele andere auch. Über die Fokussierung weitet sich der Blick - und das ist auch dringend gefordert, denn Waldorfschule wird den Zeitbezug nicht herstellen können, wenn sie sich zu stark oder ausschließlich über die Tradition definiert.

Trotzdem sollten die klassischen Stärken der Waldorfschule nicht vergessen werden, und dazu gehört die musisch-künstlerische Arbeit, etwa im Eurythmie- oder Musikunterricht.

Schulze: Das Eurythmie- und das (vorerst nur geplante) Musikgebäude liegen ja ein wenig abseits, im "geschützten" Teil des Geländes. Beide Häuser gehen in die Höhe und sie brauchen dies, um so das Strebende in diesen Künsten zu verdeutlichen. Vor allem in der Eurythmie ist es darüber hinaus wichtig, dass in der großen Geste der Umraum - und ich als Bestandteil desselben - erfahren werden kann. Deshalb auch die Schlichtheit des Tonnengewölbes als vereinfachter Himmelsraum. Und was den - wie gesagt noch nicht gebauten - Musikraum betrifft, habe ich mit vielen Dirigenten und Musikern gesprochen und alle waren sich darin einig, dass es auch hier ganz einfache Räume geben sollte, ohne eine auf die Mitte zentrierte Akustik, in der man vor allem nur sich selbst hört. Es soll zusammen musiziert werden und man soll sich also auch zusammen hören - bestimmend wird also der fließende Raum im Rhythmus werden.

Ein paar Mal war schon von der Natur, von den Möglichkeiten auch des weiten Geländes die Rede. Damit wären wir dann im Gartenbaubereich angekommen - gerade in der Mittelstufe ja von großer Bedeutung.

Schulze: Der Gartenbaubereich mag im Vergleich zur gesamten Fläche sogar eher unterdimensioniert erscheinen. Aber es gibt ja nicht nur den Nutzgartenbau mit seinen besonderen Rhythmen und seinem Raumbedarf, sondern alles auf diesem Gelände könnte Gartenbau sein. Der Gartenbau kann und müsste also die so verschieden gestalteten "Landschaften" auf diesem Gelände als seinen Bereich mit je ganz unterschiedlichen Herausforderungen entdecken. Das hätte auch den großen Vorteil, dass es nicht abgetrennt und letztlich egal wäre, was außerhalb des engeren Gartenbaubereichs mit der Bepflanzung, was mit dem Wasser, was mit den vielgestaltigen natürlichen Lebensräumen geschieht. Es werden sich also viele Bereiche finden, wo vor allem in den höheren Klassen auch thematisch konzentriert gearbeitet werden kann. Auch hier also - und damit soll der Kreis sich schließen - ist der entscheidende konzeptionelle Impuls der, möglichst umfassend auf die Qualität der zwölf Sinne zu wirken, deren Wahrnehmungen nicht in Banalität ersticken zu lassen, sondern ein breites Spektrum, geradezu ein Feuerwerk an "Informationen" zu vermitteln, die sich im Unterricht dann ordnen, Grundlage einer entscheidungsfähigen Persönlichkeit im demokratischen Kontext werden.

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